DAS „LE SAINT JACQUES“ – da, wenn Du es brauchst

…oder: eine Reise zu den Ursprüngen einer Tradition

Disclaimer: wer sich ausschließlich für die Daten und Eindrücke zum Messer interessiert, der begebe sich bitte direkt ins letzte Drittel des Textes…

Unsere Reise beginnt heute – völlig unerwartet – in Köln. Allerdings befinden wir uns keinesfalls in der Medienhauptstadt, dem modernen Köln der 2010er Jahre, wir befinden uns in einer Zelle des Konvents im Dominikanerkloster zu Köln im Jahre des Herrn 1797. Es ist Frühjahr, doch der einst so prächtige und reiche Klostergarten liegt verwildert da, auch von Ruhe und Einkehr ist nichts zu spüren. Aus den Hallen und Kreuzgängen dringt immer wieder ein schmerzerfülltes Stöhnen, mal ein Aufschrei und dann wieder das metallische Klappern von Operationsbesteck. Man sieht Brüder von hier nach da eilen, in den Händen schmutzige blau-rote Uniformen und blutige Bandagen. Es ist ein seltsamer Anblick, an den der junge Dominikanermönch Cornelius sich nicht gewöhnen kann, obwohl die französischen Truppen nun seit über zweieinhalb Jahren zum Stadtbild gehören, seit Anfang Oktober 1794 die Truppen in die Stadt am Rhein einmarschierten. Alles hatte sich seither geändert. Das Kloster wurde zum Lazarett, Cornelius und seine verbliebenen 30 Mitbrüder zu Pflegern der Kranken und Verwundeten, zu Köchen und Reinigungskräften…

Nur wenige Monate vor dem Einmarsch der Franzosen war Cornelius, damals als jüngster von vier Brüdern einer angesehenen Kaufmannsfamilie nur liebevoll Conny gerufen, dem Orden beigetreten. Er hatte die Schule mit Ach und Krach geschafft, jedoch zeigte er als Jüngster keinerlei Bestreben, im elterlichen Handel tätig zu werden, seine Vorlieben galten der Literatur, besonders Goethes „Werther“ und „Wilhelm Meister“ und die Lyrik des jungen Novalis hatten es ihm angetan, jedoch galt seine Liebe nicht den jungen Frauen, die sich stets durchaus für ihn interessierten, nein, er war stets ein wenig entrückt, so dass die Entscheidung für das Leben hinter Klostermauern eine logische Konsequenz schien. Und zunächst fand er dort seine Erfüllung, bis, ja bis zu diesem schicksalhaften Tag im Oktober 1794, der alles veränderte.

Was er jetzt, gut 30 Monate später, so dringend brauchte wie die Luft zum Atmen, waren Ruhe und Einkehr. Cornelius sprach mit seinem Prior, der wiederum einen Brief an die französische Kommandantur und nach Santa Sabina in Rom sandte mit der Bitte, den Bruder Cornelius für eine außerordentliche Pilgerreise von seinen Pflichten zu entbinden, und obwohl die Hoffnung auf eine positive Antwort unter den gegebenen Voraussetzungen nur schwer vorstellbar war, bekam Bruder Cornelius Anfang Mai des Jahres 1797 die Erlaubnis, sich auf den langen und beschwerlichen Weg nach Santiago de Compostela zu machen, auf den Spuren des heiligen Jakobus, genau zum 750. Geburtstag der ersten urkundlichen Erwähnung des Pilgerweges und im 575. Jahr nach der Gründung des Klosters zu Köln.

Schon wenige Tage später begann für Bruder Cornelius die Reise seines Lebens. Bei nur festes Schuhwerk, das traditionelle schwarz-weiße Habit seines Ordens und mit einem Rucksack, in dem er das Nötigste bei sich trägt: etwas Geld von seiner Familie, zahlreiche Ausweispapiere und Passierscheine, eine Wasserflasche, einen leichten Umhang, eine Tabakspfeife und ein paar Streifen Tabak, seine Bibel, ein Journal, das als Tagebuch dient, zwei Bleistifte und ein einfaches Taschenmesser für die Mahlzeiten. Cornelius spürte, dass dies ein ganz besonderer Punkt in seiner spirituellen Laufbahn war und begann seine Reise voller Elan und Tatendrang.

Doch die ersten Tage waren die härtesten: die Wanderungen schienen unendlich, die Gedanken kreisten um schmerzende Füße, die Abwesenheit von seiner Heimat, seinen Brüdern, seiner Familie. Cornelius litt an Müdigkeit und Hunger und er fror in den kühlen Nächten des Frühjahres, teils unter Bäumen in freier Natur, teils in Heuschobern auf Bauernhöfen, selten mal in einer Herberge. Sein Weg führte ihn durch die Nordeifel in das südliche Belgien, bis schließlich an die Grenze Frankreichs. Gute 200 Kilometer hatte er zu diesem Zeitpunkt hinter sich, die Füße hatten sich langsam aber sicher an die Belastungen gewöhnt, die Nächte schienen nicht mehr ganz so kühl und das nächste große Ziel waren die Champagne, Reims und Troyes. Hier wollte er unbedingt eine Rast einlegen, kannte und bewunderte er doch die Versepik des berühmten Chrétien de Troyes über die Gralslegende seit vielen Jahren. Von dort an würde nun die Landschaft dann wilder und rauer werden, bis er schließlich im Aveyron und in Toulouse ankommen würde. Über diesen Abschnitt seiner Reise dachte Cornelius nicht wirklich nach, als er die ersten Etappen mit ziemlicher Leichtigkeit bewältigte. Sein Geist war nun frei. Er lebte einzig für den Moment, bewunderte die Schönheit der Natur, lebte in einem Rhythmus aus Wandern, essen und schlafen, der dem eines Uhrwerkes glich. Alle Teile griffen wie die Rädchen eines Uhrwerkes ineinander.

Kurz hinter Troyes hatte er sich für ein paar Francs einen Esel gekauft. Dieser trug nun die wenigen Gepäckstücke und er begleitete seinen Herrn ohne Murren, hatte ein Gespür für Frischwasserquellen und hörte geduldig zu, wenn Cornelius seine Gedanken formulierte. Ein bis zwei Mal in der Woche begegneten sie anderen Pilgern, die meist ebenfalls mit einem Esel unterwegs waren durch das Herz Frankreichs. Wälder und Wiesen wechselten sich ab, sanfte Hügel folgten auf teils schroffe Felswände und Schluchten, die von Flüssen über Jahrtausende in den Stein geschnitten wurden.

Es war in dieser malerischen Gegend, als etwas passierte, das die Geschicke unseres Bruders Cornelius für die kommenden Tage und Wochen nachhaltig beeinflussen würden: etwa 20 Kilometer nördlich von einem Dorf namens Corbigny hatte er sein Nachtlager errichtet. Seine Bettstatt war direkt unterhalb eines Felsens, der in der immer stärker werdenden Sonne eines frühen Junitages schon viel Wärme gespeichert hatte, ein kleines Feuer prasselte und ein paar Meter entfernt graste der Esel, den Cornelius schlicht „Grauer“ nannte. Der Rucksack hing an einer Astgabel unweit des Felsens. Als Cornelius danach griff, um sich aus dem darin befindlichen Umhang ein Kopfkissen zu rollen, rutschte das Taschenmesser heraus und fiel unbemerkt und ohne ein weiteres wahrnehmbares Geräusch ins hohe Gras. Cornelius hatte lediglich ein Stück Brot vom Vortag gegessen, seine Vorräte waren aufgebraucht. In Corbigny befand sich die Abtei Saint-Léonard des Benediktinerordens, in der er auf ein Bett für eine oder zwei Nächte und auf warme Mahlzeiten hoffte. Die Brüder würden ihm diese Geste der Gastfreundschaft kaum verwehren.
Mit dem Gedanken an eine warme und stärkende Gemüsesuppe schlief er schließlich ein.

Am nächsten Morgen packte Cornelius seine Habseligkeiten, rollte sie in seinem Umhang ein und legte diesen dem Esel über den Rücken. Seinen Wanderstecken in der einen und die Zügel des Esels in der anderen Hand machte er sich auf den Weg nach Süden zur Abtei in Corbigny. Den nächtlichen Verlust seines Messers sollte er erst nach seiner Ankunft dort bemerken.

Nach einer eher gemütlichen Tagesetappe kam Cornelius am frühen Nachmittag in Corbigny an und sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht: die Brüder des Benediktinerordens boten ihm ein Bett, Mahlzeiten und die Teilnahme am gemeinsamen Gebet an, im Gegenzug wollte sich Cornelius mit seiner Hände Arbeit im Garten und mit Geschichten seiner Wanderung beim Essen bedanken. Doch schon beim Abladen seiner Sachen und der gedanklichen Inventur bemerkte er schließlich den Verlust. Ein Ersatz musste her, und so beschloss Cornelius, den Bruder Abt, einen ehrwürdigen alten Mönch von gut und gerne 75 Jahren, um Rat zu fragen, sobald sie einander vorgestellt wurden. Dies tat er schließlich auch vor dem Abendgebet. Es stellte sich heraus, dass der Abt lange Zeit im Kloster Andechs bei Augsburg gelebt und gewirkt hatte, bevor er zurück nach Frankreich kam. Sogar durch Köln kam er, als er sich auf die Heimreise begab.

Der ehrwürdige Abt war jedoch nicht nur weit gereist, er hatte auch eine große Vorliebe für das Handwerk und die Metallverarbeitung. Dies schob er auf seine Herkunft aus einem Dorf, das auf Cornelius Route lag und das seit Menschengedenken eng mit der Schmiedekunst in Frankreich verknüpft war: Thiers. So ergab es sich, dass der Abt den jungen Cornelius mit den besten Wünschen entließ und ihm den Rat erteilte, seinen Weg nach Süden in Richtung Thiers fortzusetzen. Dort solle er sich mit einem neuen Messer ausstatten und darin – neben seinem Esel „Grauer“ – einen weiteren treuen Gefährten finden.

Es waren beinahe weitere 180 Kilometer und eine gute Woche des meditativen Wanderns durch Wälder, über Felder und zum Teil entlang der Loire. Thiers selbst mutete unserem Reisenden schließlich an, als sei er im Roman des von ihm so verehrten Chrétien, also inmitten einer mittelalterlichen Landschaft gelandet. Die kleinen und verwinkelten Gassen, die Geräusche von Hämmern, der Duft glühender Kohle und das muntere Plätschern der Durolle. Alle paar Meter befand sich ein Laden, der die im Hause gefertigten Waren und Werkzeuge feil bot. Nach einer Weile des Umherschlenderns in den Gassen, entschloss sich Cornelius, einen der Läden zu betreten. Über der Türe prangte ein poliertes Messingschild mit einer Jakobsmuschel darauf…

So (oder so ähnlich) könnte sich eine Geschichte vor rund 220 Jahren ereignet haben. Gewiss, das Taschenmesser, das unser Bruder Cornelius dann für die weitere Reise gekauft hätte, würde sich in Sachen Stahl und Verarbeitung in einigen Punkten vom heutigen Produkt unterscheiden, doch kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass Thiers auch damals sicher eine wunderbare Qualität geliefert haben muss, denn sonst wäre die lange und ununterbrochene Tradition der Schmiedekunst dort sicher irgendwann zum Erliegen gekommen.
Im Jahre 2016 wäre es durchaus denkbar, dass ein Pilger, der durch Thiers kommt, sich für das Pilgermesser, das „Le St Jacques“ entscheidet.
Das St Jacques ist ein recht junger Vertreter in der ständig wachsenden Familie der klassischen französischen Taschenmesser, und dennoch erkennt man ohne Zweifel sofort die Zugehörigkeit zu dieser. Dies ergibt sich zum einen durch die Maße: das Messer hat geöffnet eine Länge von 21,5 Zentimetern bei einer Klingenlänge von etwa 10 Zentimetern. Die Klinge ist ihrer Form nach dem Yatagan nachempfunden, einem türkischen Säbel, benannt nach der Stadt seiner Herkunft im Süd-Westen der Türkei. Diese Klingenform ist auch das Vorbild für die Laguiole Taschenmesser, die bis heute den vielleicht prominentesten Vertreter ihrer Art stellen. Die Klinge verfügt über keinerlei Öffnungshilfe wie einen Nagelhau, sie trägt auf der Präsentationsseite lediglich den Namen „Le St Jacques“ in wunderschön geschwungener Schreibschrift und den Umriss des Eselskopfes, dem Markenzeichen der Messer. Eine Stahlbezeichnung – verwendet wird der bewährte Sandvik 14C28N – sucht man ebenso vergebens wie die „maker’s mark“, das Schmiedezeichen des Herstellers. Die Messer werden in der Werkstatt von Renaud Aubry (www.artisancoutelier.com) gefertigt. Die Klinge ist etwa 3 Millimeter stark und flach ausgeschliffen bis zu einer feinen Schneidfase. Die Klinge verfügt des weiteren über einen Klingenanschlag, die das Aufschlagen auf das Ressort beim Schließen verhindert. Dies ist (leider) noch lange kein Standard in Frankreichs Schmieden.

Die Griffschalen der St Jacques Modelle tragen viel zur Identitätsstiftung rund um den Namen bei. Als Pilgermesser, das den Esel und die Jakobsmuschel als Insignien trägt, haben die Macher sich dazu entschieden, auf Hölzer zu setzen, die entlang des Pilgerweges wachsen. Diese Verbindung zwischen dem fertigen Produkt und dem namensgebenden Pfad ist meiner Meinung nach höchst bemerkenswert und trägt maßgeblich zum Charme des Messers bei. Sofort kommen Gedanken hoch, dass das Walnussholz der Griffschalen meines Messers vielleicht von einem Baum stammt, der womöglich schon einem hungrigen Pilger vor langer Zeit seine Früchte geschenkt und ihm Kraft gespendet hat. Klar, dies sind romantische Gedanken, die vermutlich keiner objektiven Überprüfung stand halten, jedoch sind es diese Kleinigkeiten, die am Ende für uns entscheidend sind, ob es ein Produkt in unser Herz schafft oder nicht. Weitere verfügbare Hölzer sind Walnusswurzel, Ginster, Kastanie, Pistazie, Olive oder Buchsbaum, aber auch Apfel und Pflaume sind im Sortiment. Eine interessante Abwechslung zu den bekannten und oft verwendeten Hölzern.
Die Griffe des St Jacques, die diese ausgesuchten Hölzer tragen dürfen, sind deutlich geschwungener als die eines Laguiole und nach hinten etwas voluminöser als die des berühmten Cousins. Durch die Form schmiegt es sich wunderbar in die Hand und längeres Arbeiten, sei es in der Küche oder beim Schnitzen eines Wanderstabes, gehen mühelos von der Hand. Von oben betrachtet sind die Griffenden wunderbar gerundet, jedoch verfügt der Griff über die gesamte Länge über die gleiche Stärke, was der Handlage zusätzlich zugute kommt.

Als Slipjoint nach dem Vorbild anderer traditioneller Messer verfügt auch das St Jacques über eine geschmiedete Rückenfeder, die im vorderen Bereich eine recht fein gearbeitete Jakobsmuschel ziert. Diese ist heute nicht nur das internationale Erkennungssymbol für den Jakobsweg, es war im Mittelalter schon als solches verbreitet. Die Pilger trugen eine Muschel um den Hals oder an ihrer Kleidung und gaben sich somit als Pilger zu erkennen. Dies reichte aus, um sie von anderen Wanderern und Reisenden zu unterscheiden und sorgte ein Stück weit für Schutz. Darüber hinaus waren die Menschen jener Zeit dem Pilger gegen über zur Wohltätigkeit verpflichtet, so dass ihnen in der Regel Obdach und eine Mahlzeit gewährt wurden. Dieses starke Symbol ziert nun den wichtigsten Teil der Messer in der Familie der Laguiole-ähnlichen, den Platz vorne auf der Rückenfeder (Fliege).

Die Feder indes gibt es bei den St Jacques Messern in zwei verschiedenen Ausführungen. Die einfache und günstigere Variante hat eine glatte, unverzierte Rückenfeder, während die etwas teureren Modelle zusätzlich über eine feine Guilloche (ein von Hand gefeiltes Muster) verfügen. Dies verleiht dem Messer einen zusätzlichen Reiz und hebt es in die Klasse feiner Messer von etablierten Messermachern aus Frankreich.

Im Lieferumfang enthalten ist jeweils ein Leder Stecketui, das wirklich sehr sauber verarbeitet ist und von guter bis sehr guter Qualität ist. Es trägt – ebenso wie die Klinge – als geprägtes Symbol den Eselskopf. Hier gibt es verschiedene Brauntöne, die wunderbar zu den Griffhölzern passen. Selbst die Nähte sind in passenden Farben gehalten. Wem das Stecketui nicht genügt, der kann sich als optionales Zubehör eine Leder-Gürteltasche bestellen, die mit einem Druckknopf sicher verschließt und sowohl horizontal, als auch vertikal am Gürtel getragen werden kann. Natürlich trägt auch diese den Esel.

Was bleibt am Ende noch zu sagen? Beinahe 1000 Jahre Jakobsweg, eine Reise, die im letzten Jahrzehnt eine wahre Renaissance erlebt hat und jetzt etwas an die Seite gestellt bekommt, das weit mehr ist als ein reiner „Merchandisingprodukt“: ein Taschenmesser mit jeder Menge Charme, das Tradition verkörpert, das den Stolz auf regionale Produkte und Fertigung nach außen trägt, dies jedoch in der bescheidensten und sympathischsten Art und Weise: zuverlässig, unaufdringlich, ehrlich. Die perfekten Attribute für einen Freund fürs Leben!

Text: Andreas Thiel, Review auf yt: Le Saint Jacques

Anmerkung: der Autor und freie Schriftsteller Andreas Thiel ist Messerliebhaber und -sammler und veröffentlicht regelmäßig auf seinem You Tube Channel „Andi1878“ interessante Reviews